Atlético Madrid bestreitet gegen Stadtrivale Real sein letztes Europacup-Match im Estadio Vicente Calderón. Voller Wehmut nehmen die Colchoneros Abschied von einer einzigartigen Stätte des Weltfußballs. Welcher Ort könnte passender sein für dieses Theater der bittersüß geplatzten Träume? Paseo de los Melancólicos, Promenade der Wehmütige, heißt die Straße vor dem Estadio Vicente Calderón, der Heimstätte Atlético Madrids, des stets so stolzen und oft so unglücklichen Arbeiterklubs.


Estadio Vicente Calderón. | Bildquelle: YouTube

Am Mittwochabend bestreiten die Colchoneros ihr letztes Europapokal-Spiel im geliebten Calderón, ausgerechnet gegen den großen, glamourösen Stiefbruder Real. Bald rücken die Bagger der Melancholie aus fünf Jahrzehnten zu Leibe.

"Dieses Stadion ist eine kleine Ecke der Sicherheit für jeden von uns", sagte einst Luis Aragones. Und er musste es wissen: Niemand stand so für Atlético, niemand so für das Vicente Calderón wie der 2014 verstorbene Weise von Hortaleza, der Spaniens Nationalmannschaft sechs Jahre zuvor zum Europameistertitel geführt hatte.

Am 2. Oktober 1966 war Aragones im Eröffnungsspiel des neuen Stadions beim 1:1 gegen Valencia erster Torschütze. Damals trug die Arena noch den Namen Estadio Manzanares nach dem Fluss, in dessen Biegung sie hineingepflanzt worden war. Erst 1971 - Eitelkeiten waren auch im Verein des einfachen Volkes nicht ganz unbekannt - wurde sie nach dem damaligen und bis zu seinem Tod 16 Jahre später amtierenden Klub-Präsidenten umbenannt.

Nach mehr als 50 Jahren trägt das Estadio Vicente Calderón sichtlich die Patina vieler früher Schlachten, doch der Geist von Aragones durchweht diese charismatische Einzigartigkeit noch immer. "Ein Mensch wie Luis würde auch hinter jedem Moment der Traurigkeit und des Schmerzes stets gute Erinnerungen sehen", sagte der heutige Trainer Diego Simeone, auch so eine Atlético-Ikone. Und besser kann man die Aura dieses Stadions nicht summieren.

Und was ist das für ein Stadion! Als hätten es die Architekten Javier Barroso und Miguel Ángel García Lomas aus den kühnsten Träumen romantischster Fans abgemalt. Die derart steilen Ränge, auf denen man über dem Spiel zu schweben scheint. Die geradezu kafkaeske Haupttribüne, durch deren Erdgeschoss die Stadtautobahn M-30 verkehrt. Dieser unvergleichbare Duft, dieses Destillat aus Bier, Angst- und Glücksschweiß, aus dem, was von Bars, Fluss und Autobahn hinaufweht - so mag Heimat riechen.

Und wenn - so hofft man doch wenigstens - Wasser aus dem darüberliegenden Stock durch die marode Decke in den Presseraum tropft, so ist es, als presse das Calderón die Erinnerungen all dieser schönen und traurigen Jahre hervor. An die glorreichen 1960er und 1970er Jahre mit dem Spieler Aragones und dem Trainer Aragones, den Sieg im Weltpokal 1975 über die heißblütigen Argentinier von Independiente aus Buenos Aires, als der Manzanares siedend überblubberte.

An den irren, wie einen spätrömischen Kaiser im Stadion thronenden Präsidenten Jesús Gil y Gil, der zwar einen Flugzeugträger kaufte, als er nicht mehr wusste, wohin mit den Peseten, seine Hinterlassenschaften Atlético aber beinahe in den finanziellen Untergang schickten.

An das unverhoffte Double 1996 mit dem großartigen Grantler Radomir Antic als Trainer und Diego Simeone im Mittelfeld. An den noch unwahrscheinlicheren Abstieg vier Jahre später.

An die Renaissance mit dem jungen Goldkind Fernando Torres, die rauschhafte vergangene Dekade mit dem zum Trainerderwisch gewordenen Simeone, als zweimal - 2014 und 2016 - der Triumph in der Königsklasse so nahe war, bis Real im Finale alles verdarb.

Das Calderón wird noch bis zum Sommer 2018 stehen, als stummes, leeres Mahnmal der Melancholie am Ufer des trüben Manzanares. Danach soll an seiner statt ein Park entstehen. Er dürfte vielen Colchoneros eher Heimat werden als die neue Arena im Nordosten der Stadt. Nach einem chinesischen Mischkonzern wird sie "Wanda Metropolitana" heißen, der Paseo de los Melancólicos 20 Kilometer entfernt sein, die Wehmut wachsen.

 

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