Der Videobeweis in der Bundesliga wird derzeit ausgiebig vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) getestet. Köln (SID) Samstag, 15.30 Uhr. Normalerweise steht FIFA-Schiedsrichter Manuel Gräfe zu dieser Zeit auf dem Rasen eines Bundesliga-Stadions und leitet ein Spiel vor Zehntausenden Zuschauern. An diesem Samstag sitzt er in einem 15 Quadratmeter großen Raum im Cologne Broadcasting Center (CBC) und macht eine Schulung zum Video-Assistenten. Ab der Saison 2017/18 werden sie in der Bundesliga zum Einsatz kommen. (jetzt Fußballreise nach Deutschland buchen!)

Schon seit Saisonbeginn werden die Bundesliga-Schiedsrichter im Kölner Replay-Center zum Video-Assistenten ausgebildet. Vor vier Monitoren verfolgen die Unparteiischen Spiele und können sich dabei Szenen aus bis zu 17 Kameraperspektiven zeigen lassen. Gitternetzlinien und Naheinstellungen können ausgewählt werden; die Szene soll so klar wie möglich aufgeschlüsselt sein.

Heute sitzt Gräfe neben Kollege Tobias Stieler, im identisch aufgebauten Nebenraum verfolgen Deniz Aytekin und Daniel Siebert das Geschehen. Es herrscht eine lockere Atmosphäre. Die Schiedsrichter haben ganz offensichtlich gemeinsam Spaß an der neuen Aufgabe und gehen diese entsprechend professionell an.

Ihnen wird jeweils ein Operator zur Seite gestellt, der technisch mit der Technologie vertraut ist und die geforderten Spielszenen in Sekundenschnelle abrufen kann.

Im Laufe des Tages haben die vier Unparteiischen im sogenannten Offline-Test bereits Spielszenen diverser Wettbewerbe analysiert und auf strittige Entscheidungen untersucht. "Check Strafstoß", sagt Manuel Gräfe um seinem Operator zu signalisieren, dass er die Situation gerne noch einmal detailliert sehen möchte.

In Spanien, Frankreich und den Niederlanden wird der Videobeweis bereits getestet, dies allerdings nur in einigen wenigen ausgesuchten Spielen. Ab der kommenden Saison wird das gemeinsame Projekt der Deutschen Fußball Liga (DFL) und des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) dann hierzulande in der Bundesliga flächendeckend in allen Spielen eingesetzt, ebenfalls im Rahmen einer Testphase.

Schlussendlich liegt die Entscheidung bei den Regelhütern des International Football Association Board (IFAB), ob die Technologie auch nach der Saison 2017/18 dauerhaft genutzt werden darf.

An diesem 30. Spieltag ist Manuel Gräfe Video-Assistent der Partie Hamburger SV gegen Darmstadt 98. Über Headset hört der 43-Jährige den Schiedsrichterfunk aus dem Stadion, eingreifen kann er aber nicht. Ab nächster Saison wird sich das ändern, dann ist auch der Video-Assistent mit dem Schiedsrichter auf dem Platz per Funk verbunden.

Ein Eingreifen des Video-Assistenten ist nur in vier speziellen Fällen möglich: Tor, Platzverweis, Strafstoß und Spielerverwechslung. Dieser Rahmen wird vom Weltverband FIFA vorgegeben und von DFL-Schiedsrichter-Manager Hellmut Krug unterstützt: "Wir können nicht jede Schiedsrichterentscheidung überprüfen. Der Video-Assistent soll so wenig wie möglich eingreifen, ausschließlich bei vorab definierten spielentscheidenden Situationen. Wir wollen und dürfen den Charakter des Fußballs nicht verändern", sagt Krug, der bei jeder Schulung vor Ort ist und den Unparteiischen als Ansprechpartner dient.

In der 27. Minute erlebt Gräfe die erste strittige Situation beim Spiel in Hamburg. Im Strafraum wird HSV-Spieler Gideon Jung am Trikot gezogen, geht zu Boden und verpasst so eine mögliche Kopfballchance. Auf dem Rasen bleibt die Pfeife von Schiedsrichter Sascha Stegemann stumm. Gräfe im CBC sieht aber ein Foul: "Klare Kameraeinstellung, der Spieler wäre sonst zum Ball gesprungen", sagt der erfahrene Unparteiische. Er notiert sich die Szene, im Nachgang wird sie mit den anwesenden Kollegen besprochen.

In Zukunft sollen an jedem Bundesliga-Wochenende bis zu sieben Schiedsrichter im Replay-Center sitzen und eingreifen, wenn sie einen klaren Fehler erkennen. Dafür werden sie seit Wochen geschult, um sich einer einheitlichen Linie anzunähern.

Faktische Entscheidungen wie eine Abseitsstellung sind mit Hilfe des Video-Assistenten zweifelsohne in wenigen Sekunden aufzuklären. Jede Situation wird durch die verschiedenen Kameraperspektiven, Zooms und Superzeitlupen so objektiv wie möglich gemacht, um dem Video-Assistenten eine klare Entscheidung zu ermöglichen.

Bei der Nachbesprechung der Szene aus dem HSV-Spiel herrscht Uneinigkeit. Schiedsrichter Tobias Stieler pflichtet Gräfe bei: "Der Angreifer wird klar festgehalten, sodass er nicht zum Kopfball kommt."

Projektleiter Hellmut Krug ist nicht überzeugt: "Ist das eine ganz klare Entscheidung, bei der wir eingreifen?", fragt er rhetorisch in den Raum: "Ich habe den Eindruck, dass der Angreifer nach dem kurzen Halten recht freiwillig zu Boden ging, auch kann ich nicht zweifelsfrei erkennen, dass er tatsächlich zum Kopfball hochspringen wollte. Für mich reicht das nicht, um hundertprozentige Sicherheit zu haben."

Exakt darum geht es bei der Einführung des Videobeweises. Ein Eingriff wird nur erfolgen, wenn sich der Video-Assistent absolut sicher ist, dass sein Kollege auf dem Rasen einen Fehler gemacht hat. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Schiedsrichter selbst nachfragt, wenn er sich nicht sicher ist.

Ähnlich wie im US-Sport wird es dafür am Spielfeldrand eine Review-Area geben, in der er sich die Situation anschauen kann und in Absprache mit seinem Video-Assistenten entscheidet. "Das soll aber die Ausnahme bleiben", betont Krug, "die meisten Entscheidungen können aus dem Replay-Center innerhalb weniger Sekunden überprüft werden".

Nach einer angeregten, offenen Diskussion kommen die vier anwesenden Schiedsrichter zu dem Entschluss, dass man bei der HSV-Szene nicht eingegriffen hätte. Der Unparteiische im Stadion bleibt auch weiterhin wichtigster Entscheidungsträger, der Video-Assistent gibt lediglich eine Empfehlung ab sofern er sich bei seiner Entscheidung sehr sicher ist.

In vier begleiteten Bundesliga-Spielen am Samstagnachmittag wäre in einem einzigen Fall ein Eingriff erfolgt. In der 64. Minute gibt Schiedsrichter Markus Schmidt Freistoß für Ingolstadt, nach einem Tritt des Bremers Lamine Sané. Die Aktion findet nachweislich auf der Strafraumgrenze statt und muss dementsprechend mit Strafstoß geahndet werden.

Situationen wie diese sind dankbar für die Video-Assistenten, weil sie sicher aufzuklären sind und keine Zweifel aufkommen lassen. Krug äußert aber auch: "Uns werden sicher irgendwann auch einmal Fehler unterlaufen, das ist unvermeidlich. Die Diskussion um Entscheidungen wird auch mit der Einführung des Videobeweises nicht enden."

Bis zum 30. Spieltag gab es laut Krug 90 spielrelevante Fehlentscheidungen in der Saison, von denen 65 mit Hilfe des Video-Assistenten bei optimalem Verlauf hätten korrigiert werden können.

Trotz modernster Technologie: Die letzte Entscheidung trifft weiterhin der Mensch. Das Replay-Center dient dazu, diese Entscheidung so objektiv, so fair wie möglich zu treffen. Der Videobeweis wird seinen Zweck erfüllen, gravierende Fehlentscheidungen zu verhindern, den Fans am Fußballstammtisch aber nicht den Diskussionsstoff nehmen.

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