In der Kultsendung „Talk & Tore“ von Sky Sport Austria war u.a. auch ÖFB-Schiedsrichterchef Viktor Kassai zu Gast, der Rede & Antwort stand. Der 48-Jährige fungiert aktuell als „Technical Director“ im Referee Department des ÖFB. Von 2003 bis 2019 war der gebürtige Ungar FIFA-Schiedsrichter und leitete u.a. 2011 das Finale der UEFA Champions League zwischen dem FC Barcelona und Manchester United im Londoner Wembley-Stadion. Bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 kam er ebenfalls als Final-Schiedsrichter zum Einsatz. Darüber hinaus bei der EM 2008, 2012 und 2016 sowie der WM 2010 in Südafrika.

„Wir sind noch am Anfang, weit von der Perfektion entfernt"

Viktor Kassai (ÖFB-Schiedsrichterchef) über...

seine ersten Monate beim ÖFB: „Es ist eine große Herausforderung, ich bin der Chef von mehr als 70 Leuten. Es ist eine große Gruppe. Unsere Aufgabe ist es, eine einheitliche Linie für alle Leute zu finden. Es ist eine schwierige Aufgabe für uns. Nach 16 Spieltagen habe ich schon viele Informationen über die Schiedsrichter gesammelt, ich kenne die Qualität der Schiedsrichter und Beobachter. Wir sind noch am Anfang, weit von der Perfektion entfernt, arbeiten aber Schritt für Schritt daran, besser zu sein.“

den Ablauf seiner Arbeitswoche: „Mein wichtigster Teil ist das Wochenende. Ich besuche die Stadien, meistens in der Ost-Region, will persönlich die Leistungen von den Schiedsrichtern sehen. Während der Woche machen wir die Analyse, schicken je 15-20 Clips an den Schiedsrichter und analysieren. Darüber hinaus mache ich die Besetzungen für die Partien.“



„Wenn wir beginnen, zu diskutieren, ob Linien parallel sind oder nicht, können wir Laden schließen"

das Tor zum 1:0 durch Simon Seidl bei BW Linz – Sturm Graz: „Die erste Frage ist, ob Ronivaldo im Abseits war oder nicht. Der VAR muss diese Situation checken. Die Entscheidung am Spielfeld war ein reguläres Tor. So muss der VAR die Prüfung beginnen und dann den ‚Point of contact‘ des Spielers von BW Linz registrieren. Optisch sieht es so aus, als ob Ronivaldo im Abseits wäre. Wir benutzen in der österreichischen Bundesliga das Hawkeye-System, das ist das beste der Welt zurzeit. Das System kalkuliert automatisch und hat gesagt, dass es keine Abseitsstellung ist. Man muss dem Hawkeye-System vertrauen. Wenn wir beginnen, darüber zu diskutieren, ob die Linien parallel sind oder nicht, können wir den Laden schließen.“


die rote Karte gegen Javi Serrano: „Der Schiedsrichter hat eine gute Position und hat eine gute Entscheidung getroffen. Er trifft Ronivaldo nicht am Schuh, sondern weiter oben, am Knöchel. Die neuesten Interpretationen der UEFA und auch der Bundesliga sagen, dass es bei solchen Szenen eine hohe Gefahr für die Gesundheit gibt. Deshalb ist die rote Karte absolut eine gute Entscheidung.“

den nicht gegebenen Handelfmeter in der Partie Blau-Weiß Linz – Sturm Graz: „Der Schiedsrichter und der VAR müssen immer erklären, ist es eine natürliche Handbewegung oder nicht. Hier ist unsere Meinung aber die des VAR – es war keine Bewegung zum Ball, sondern eine natürliche Position.“

VAR-Eingriffe bei falschen Einwürfen und Eckbällen: „Im Regelwerk steht, dass der Einwurf dort gemacht werden muss, wo der Ball das Spielfeld verlassen hat. Ich bin sicher, dass es in 99,9 Prozent der Fälle nicht regelkonform ist. Von Toleranz steht nichts im Regelwerk. Es ist im VAR-Protokoll klar geschrieben, dass auch ein falscher Einwurf, zum Beispiel auf einem Bein, keine Situation für den VAR ist. Bei Einwürfen und falschen Eckbällen wird es meiner Meinung nach auch in der Zukunft keine VAR-Interventionen geben.“

„VAR ist ein ganz junges Projekt, wie ein Baby"

den VAR: „VAR ist ein ganz junges Projekt, wie ein Baby. Seit sechs, sieben Jahren gibt es dieser Projekt, der Fußball ist aber schon mehr als 150 Jahre alt. Man muss ein bisschen tolerant sein, aber es gibt auch ein Ende der Geduld. Der VAR und die Schiedsrichter müssen sich steigern, ganz klar.“

die umstrittene Handregel und deren verschiedene Auslegungen: „Wir folgen immer den Instruktionen der UEFA. Im März gibt es ein Meeting von der FIFA und IFAB für die neuen Spielregeln 2024. Ich erwarte eine Änderung und Klarstellung, wie man es besser verstehen kann. Nicht nur für Spieler und Schiedsrichter, sondern auch für Medien und Leute, die Fußball lieben.“

die Absicht als mögliches Kriterium für ein strafbares Handspiel: „Die Absicht ist sehr schwierig zu beweisen, fast unmöglich. Im Profifußball gibt es nicht so viele Situationen. Mehr als 90% der Handspiele kommen von unnatürlichen Handbewegungen oder Positionierungen. Es gibt eine Anweisung der UEFA, dass der Verteidiger das Risiko vermeiden muss, den Ball mit der Hand zu spielen. Wenn er zum Beispiel springt, nimmt er dieses Risiko in Kauf.“

verschiedene Auslegungen der Handregel in verschiedenen Ligen und Bewerben: „Der ÖFB und Österreich ist ein Teil Europas und wir befolgen die Anweisungen der UEFA. Die 55 Nationalverbände sollen das so machen, für die Einheitlichkeit. Das Problem ist, dass einige Länder nicht so strikt den Anweisungen folgen. Deshalb gibt es andere Entscheidungen in der Premier League als in der deutschen Bundesliga zum Beispiel.“

"Wir brauchen ein bisschen frisches Blut, auch in der Bundesliga“

die Qualität der österreichischen Schiedsrichter: „Wir können in Österreich nicht negativ über die Qualität der Schiedsrichter reden. Wir hatten vier Schiedsrichter in der Europa League. Das ist ganz positiv. Nicht so viele Länder haben so viele Besetzungen in der Europe League. Unser Ziel ist es, in der Champions League Schiedsrichter zu präsentieren. In ein paar Jahren müssen wir diesen Schritt machen. Ich möchte der jungen Generation mehr Chancen geben, mit circa 30 Jahren. Wir brauchen ein bisschen frisches Blut, auch in der Bundesliga.“

junge Schiedsrichter in Österreich: „Wir haben viele junge Schiedsrichter. Im Schiedsrichterwesen ist jemand mit 30 Jahren noch jung. Mit 20 hat ein Schiedsrichter keine Erfahrung. Mit 30 ist die Fitness top und sie haben auch schon Erfahrung. Mit 40, 45, 50 Jahren verlieren wir Fitness. Die jungen Schiedsrichter machen natürlich manchmal Fehler, aber sie haben Potenzial. Deswegen besuche ich mehr Spiele in der zweiten Liga als in der ersten Liga. Ich analysiere, wer bereit ist für den Sprung in die Bundesliga.“

das Ende der internationalen Karriere von Schiedsrichter Harald Lechner: „Harald hat uns leider darüber informiert, dass er seine internationale Karriere beenden wird. Es ist schwierig für ihn, weil er einen prestigeträchtigen Beruf hat. Für internationale Spiele muss du drei Tage weg von der Arbeit und der Familie sein. Wenn jemand mehr als 40 Jahre alt ist, ist es manchmal zu viel. Wir akzeptieren diese Entscheidung von Harald. Harald ist eine Legende in Österreich, er hatte eine schöne Karriere. Er wird auch weiter in Österreich pfeifen. Aber die internationalen Strapazen kann er nicht mehr mitmachen.“

die Chancen auf einen österreichischen Schiedsrichter bei der EM 2024: „Wir wissen es gar nicht. Realistischerweise haben wir bei den Schiedsrichtern keine Chance, weil niemand in der Champions League pfeift. Beim VAR wissen wir es nicht, aber der VAR ist in Österreich noch nicht so alt. Da wird es auch schwierig. Wir planen aber sowieso mehr mittelfristig und langfristig.“

„Das ist eine Katastrophe"

die VAR-Panne bei der Begegnung Liverpool – Tottenham Ende September: „Das ist eine Katastrophe. Alle Ligen, auch die Bundesliga, zahlen so viel Geld für dieses Projekt. Einige Sekunden können alles zerstören, mit schlechter Kommunikation und wenig Konzentration. Mit solchen Situationen sinkt das Vertrauen in den VAR. So etwas kann nicht passieren.“

den Schiedsrichtermangel in Europa: „Die UEFA hat festgestellt, dass der Respekt für Schiedsrichter niedriger geworden ist, überall. Deshalb gibt es eine Kampagne der UEFA für mehr Respekt gegenüber der Schiedsrichter. In Europa gibt es 50.000 Schiedsrichter zu wenig. Deshalb machen wir auch in Österreich eine starke Kampagne.“

Fotocredit: Harald Dostal/www.sport-bilder.at