Thomas Müller vergoss nach dem historischen WM-Desaster bittere Tränen, Sündenbock Mesut Özil verabschiedete sich unter den wüsten Beschimpfungen eines Fans für immer aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Und Joachim Löw packte beim Gedanken an die "Schmach von Kasan" auch noch Monate später das kalte Grausen. "Es war eine unglaubliche Leere. Man weiß, man hat eine ganze Nation enttäuscht", sagte der Bundestrainer.
Enttäuscht: Müller, Goretzka und Gomez trotten vom Feld

Enttäuscht: Müller, Goretzka und Gomez trotten vom Feld

Kasan, 27. Juni 2018, 18.58 Uhr Ortszeit: Nach dem 0:2 gegen Südkorea sind die gefeierten "Helden von Rio" entthront. Erstmals in der 80-jährigen deutschen WM-Geschichte scheitert die DFB-Elf in der Vorrunde - als Gruppenletzter!

"Dass wir so eine WM spielen, dass es so einen Einbruch gibt, habe ich mir wirklich nicht vorstellen können", sagte Löw später. Der Bundestrainer verfiel für "zwei, drei Tage in eine Schockstarre". Sogar auf Frustsaufen habe er "keine Lust mehr" gehabt: "Man fragt sich warum, weshalb, aber findet am Anfang keine Antworten."

Löw trifft das Aus völlig unvorbereitet, er spricht von einem "absoluten Tiefschlag", für den es "keinerlei Anzeichen" gegeben habe. 2017 hatte seine Mannschaft mit dem Confed-Cup-Sieg der jungen Wilden und makelloser Quali das für ihn "beste Jahr" seiner Amtszeit hingelegt. Selbst nach dem 0:1 zum Auftakt gegen Mexiko überhört er die Alarmglocken, lehnt vor dem Schweden-Spiel (2:1) als "Jogi cool" in Sotschi an der Strandlaterne. Doch aus dem Marketing-Slogan #zsmmn wird der historische #zsmmnbrch, die DFB-Elf zum Gespött der Fußball-Welt.

Das britische Boulevardblatt Sun bringt eine Definition des Wortes Schadenfreude auf dem Titel, Mundo Deportivo in Spanien nimmt den weinenden Müller mit der Zeile "Kaputt historico" auf Seite eins. Italiens Tuttosport stellt überrascht fest: "Es gibt keine Großen mehr!" Und der Standard in Österreich stichelt hämisch: "Ausgeweltmeistert!"

Warum? Da war zum einen die leidige, von allen unterschätzte Özil-Saga. Zudem gelang es Löw nicht, aus den Jungstars um Joshua Kimmich und seinen Weltmeistern ein Team zu formen, den hochtalentierten Leroy Sane ließ er gar zu Hause. Und er übersah, dass seine Spielidee aus der Mode gekommen war.

"Mein allergrößter Fehler war, dass ich gedacht habe, dass wir mit diesem dominanten Ballbesitzfußball durch die Vorrunde kommen. Das war fast schon arrogant", sagte Löw bei seiner "WM-Analyse" im August 2018, "mein Bauchgefühl, meine Intuition hatte mich verlassen."

Ernsthaft an Rücktritt dachte er nie. Vier Tage nach dem Aus bespricht er sich in einem Restaurant bei Freiburg mit DFB-Direktor Oliver Bierhoff: "Die Überzeugung, es allen noch einmal zu zeigen, wurde immer stärker."

 

SID