Ultras im Abseits? Experten zeichnen spannendes Porträt über verrufene Szene

thein.pngKlischee oder Wahrheit? Berechtigte Klage oder doch nur Vorurteil? Kaum ein Thema wird im Sport derzeit so heiß diskutiert wie die Aus- und Einwirkungen der so genannten Ultras auf den Fußball weltweit. Schlagworte wie Hass, Gewalt, Aggressivität oder Pyrotechnik – sind schnell in aller Munde, wenn die Sprache auf eine Szene voller scheinbar stets gewaltbereiter und unbelehrbarer Fans kommt. Was ist Dichtung, was Realität? Ist wirklich alles nur negativ? Stehen die Gruppierungen zu Recht in dieser verrufenen Ecke? Dr. Martin Thein heißt der Mann, der gemeinsam mit zwei Kollegen das Institut für Fankultur gegründet hat. Ab dem Sommersemester 2012 sollen Studenten die Entwicklung der deutschen Fanszene erforschen. Das Ligaportal unterhielt sich mit Dr. Thein zu diesem interessanten Thema:


Jannis Linkelmann und Sie haben erst vor wenigen Tagen das Buch "Ultras im Abseits? - Portrait einer verwegenen Fankultur" veröffentlicht. Was dürfen die Leser von diesem Buch erwarten?

Dr. Martin Thein: "Ultras werden immer wieder eindimensional auf den Gewaltaspekt reduziert. Vielen Beobachtern ist dabei jedoch oft gar nicht bewusst, dass es sich bei den Ultras um eine Form des Fanseins handelt, die mit keiner Fankultur der letzten Jahrzehnte zu vergleichen ist. Leider werden sie viel zu oft mit den "Schlägern" und "Hooligans" der 1970er- und 1980er-Jahre gleichgesetzt. Das ist einfach falsch und muss auch dem letzten Kritiker endlich einmal klar werden. Auch und gerade unabhängig davon, dass man natürlich die in letzter Zeit oft chaotischen und dummen Gewalthandlungen vieler Ultras absolut verurteilen muss. 

Dennoch sind für andere, meist jüngere Fußballfans, die Ultras zu Ikonen geworden, zu hippen Trendsettern und nachahmenswerten Rebellen der Kurve. Ob im Erscheinungsbild, den Aktionsformen oder auch in der Denkweise, viele dieser Jugendlichen identifizieren sich immer öfters mit dem Lebensentwurf der Ultras, und das nicht nur beim Stadionbesuch. Dadurch geraten sie in Konflikt mit den anderen "normalen" Fans. Wir beobachten in diesem Zusammenhang erste ernstzunehmende Tendenzen hin zu einem Entzweien der Fankultur. Das ist gefährlich und regt zum Nachdenken an.

»Ultras im Abseits?« will durch eine faire und unvoreingenommene Herangehensweise für das Thema »Ultras« sensibilisieren. Den Erfahrungen und Meinungen unterschiedlichster Lager soll hier eine Plattform gegeben werden, denn alle reden über "die Ultras", aber die wenigsten haben sich schon ernstzunehmend mit dieser Art der Fankultur beschäftigt. Wir möchten somit zu einem gemeinsamen besseren Verständnis verhelfen, insbesondere für Außenstehende. Ob Fanforscher, Historiker oder Sportpolitiker, alle kommen hier zu Wort und teilen Erfahrungen sowie Einschätzungen mit. Auch der Fankongress 2012 in Berlin wird aus journalistischer Perspektive aufgearbeitet und die »Ultras« des VfB Stuttgart, Commando Cannstatt 97, werden gar hautnah begleitet. Renommierte Journalisten wie Christoph Ruf und Mike Glindmeier sowie Gerald von Gorrissen, Fan-Beauftragter des DFB, sorgen vor allem für eine breitere und tiefergehende Möglichkeit des Verständnisses. Auch sprachen wir mit Helmut Spahn über seine Gespräche mit der Kampagne „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“."


Welcher ist Ihr persönlicher Bezug zur Ultraszene?

Dr. Martin Thein: "Zunächst vorne weg: weder Jannis noch ich sind Ultras. Wir sind Fußballfans so wie es viele Millionen Menschen weltweit auch sind. Schon sozusagen von Kindesbeinen an dabei. Speziell ich habe die Entwicklung der Fankultur in den vergangenen 30-35 Jahre sehr intensiv verfolgt, seit meinen Kindertagen mit meinem Vater beim Nürnberger Club. Aber wie kamen wir zu den Ultras? Wenn man sich eben die Veränderung der Fankultur in den letzten 10 bis 15 Jahren anschaut, so war der Aufstieg der Ultras schon etwas Besonderes für uns. Sie waren so "anders", so fremd und gleichzeitig doch so faszinierend, so nah und dann doch wieder so fern. Darüber wollten wir mehr wissen und irgendwann hat uns das Thema dann so gepackt, dass wir uns entschlossen haben, uns damit auch wissenschaftlich auseinander zu setzen."


Viele Ultra-Gruppierungen stehen im Fokus der Medien, der DFB hat viel zu tun in dieser Saison. Warum entwickeln sich einzelne Gruppierungen so ins Negative?

Dr. Martin Thein: "Das ist eine gute Frage, die bei uns auch immer wieder heiß diskutiert wird. Du hast schon richtig festgestellt, dass es sich hierbei gottlob nur um einzelne Gruppen innerhalb der Ultra-Szene handelt. Bestimmte Gruppen sind von ihrer personellen Zusammensetzung, von ihrem Gruppengefüge und von ihrer „strategischen“ Ausrichtung eindeutig als „gewaltgeneigt“ einzustufen. Ihnen eilt der Ruf voraus, „harte Jungs“ und „brutale Kerle“ zu sein. Man hat in martialischer Art und Weise dadurch ein „Outlaw“-Image inne, fühlt sich als „Rebell in der Kurve“, ein Stück weit auch gegenüber der Gesellschaft. 

Aufgrund dieser für uns negativen Reputation fühlen sich gerade gewaltaffine Jugendliche zu diesen Ultra-Gruppen hingezogen. Da die Führungsfiguren bei solchen Gruppen dementsprechend eine sehr niedrige Toleranzschwelle haben, oft auch selber in Straftaten verwickelt sind, ist der Eintritt vorgenannter Jugendlicher in solche Gruppen relativ einfach. 

Als Forscher haben wir hier ein methodisches Dilemma: Uns fehlt der empirische Zugang zu gewaltbereiten oder -affinen Gruppen. Eben weil sie immer wieder Straftaten ausüben oder diese billigend in Kauf nehmen, schotten sich jene Gruppen von der Öffentlichkeit, den Vereinen und auch der Wissenschaft völlig ab. Dies ist der Anfang einer Spirale, die letztlich dazu führt, dass die Gruppen sich zunehmend von der Außenwelt isolieren und ein Eigenleben in ihren jeweiligen Clubheimen führen. Das Freund-Feind-Denken erfährt hierdurch immer neue Nahrung. Frei nach dem Motto: „Wir Ultras sind die Guten, draußen sind die Schlechten, die uns was wollen…“."


Wie können wir uns denn den typischen Ultra vorstellen?

Dr. Martin Thein: "Letztlich gibt es den typischen Ultra nicht. Wir beobachten, dass viele Jungs relativ früh mit einer Gruppe in Kontakt kommen, schon im Alter von 13 oder 14 Jahren. Häufig auch über das Internet. Bei den ersten Stadionbesuchen finden sich schnell Gleichgesinnte, man erlebt dieses Gemeinschafts- und Gruppeerlebnis. Viele himmeln die Ultras geradezu an. Dann stellen wir oft ein Schlüsselerlebnis fest, meist erlebt man eine erste, zutiefst empfundene Ungerechtigkeit – von Polizei- oder Vereinsseite, das fördert das Freund-Feind-Denken. Dann kann sich wie so häufig langfristig ein Trend zur Isolation von der anderen "normalen" Fanwelt entwickeln: Man fühlt sich als Ultra, denkt als Ultra, arbeitet zwar nebenher noch in seinem Job, aber in seinem Kopf ist er zuerst Ultra und dann das soziale Umfeld."


Ein Vorwurf an die Ultras lautet, dass sie sich in den Stadien gerne selbst inszenieren. Können Sie das bestätigen?

Dr. Martin Thein: "Das gehört fast schon zum Wesen der Ultras. Sie treten sehr selbstbewusst auf und nutzen die Bühne Bundesliga zur Selbstinszenierung. Sie haben ein sehr elitäres Selbstverständnis und sehen sich als die wahren Vertreter des Fußballs – schließlich hängt die Stimmung im Stadion in hohem Maße von ihnen ab, und das wissen sie."


Ist denn der Fußball mit den Ultras noch gewalttätiger geworden?

Dr. Martin Thein: "Hass und Gewalt hat selbstverständlich im Fußball nichts zu suchen. Gleichwohl gehören gewisse verbale Feindschaften seit Jahrzehnten dazu. Ich komme aus Franken und wenn der Club gegen die Bayern aus München antritt, sind die verbalen Auseinandersetzungen einfach ein Bestandteil des Spieltages. Man muss auch sehen, bei welchen Spielen es zu Ausschreitungen kommt: Gladbach gegen Köln, Rostock gegen St. Pauli, Rapid gegen die Austria. Da sind über Jahre gewachsene Feindschaften entstanden, das kann nicht auf Ultras beschränkt werden. Auch unter „normalen Fans“ herrscht an diesen Spieltagen häufig eine deutlich aggressivere Stimmung. Aber dies ist kein Phänomen der vergangenen Jahre. Entscheidend ist letztlich, dass diese Differenzen nicht in körperliche Gewalt umschlagen. Denn die wollen wir im Fußball natürlich alle nicht sehen. In der Tat lassen sich die Presseberichte der letzten Jahren über Fans primär auf die in dem Phänomen immanente "Gewaltfrage" reduzieren. Über 90 Prozent der "normalen" Fans hat aber überhaupt keine Gewaltaffinität, ist auch nicht subkulturell geprägt, wie beispielsweise die Ultras."


Zu guter Letzt: Wie sicher ist derzeit der Besuch in einem Fußballstadion? 

Dr. Martin Thein: "Wir haben in Österreich und Deutschland die sichersten Stadien weltweit. Wenn wir von Gewalt in Stadien sprechen, müssen wir vorsichtig sein: Pyrotechnik ist nicht gleich Gewalt. Wenn es zu Vorfällen kommt, verlagert sich das meist in den Vorraum, auf umliegende Gelände oder Autobahnraststätten. Aber eines ist sicher: Der Vater kann mit seinem Sohn ganz genüsslich und ohne Bedenken ins Stadion gehen. Und so soll es auch bleiben."  

Martin Thein/Jannis Linkelmann, Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur, Verlag Die Werkstatt, 14,90 Euro, ISBN 978-3-89533-847-2

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